Wird man mit seinem Charakter geboren oder entwickelt sich dieser im Laufe des Lebens? Können Traumata zu Gewalt und Hass führen? Kann man schlimme Taten verhindern, indem man die Täter nicht bloß als Täter, sondern als die Opfer von gestern sieht? Jessika schickt uns in ein Detektiv-Abenteuer der etwas anderen Art und stellt im Laufe seiner Story genau diese Fragen.
Für die Hinterbliebenen
Jessika hat Selbstmord begangen und ihr Vater steht vor einem Rätsel: Warum hat seine Tochter sich das Leben genommen? Was hat sie dazu getrieben? Und vor allem: Könnt ihr das Rätsel für ihn lösen? Als namenloser Agent für das Unternehmen White Flower tätig, ist es eure Aufgabe, euch mithilfe einiger zur Verfügung gestellter Daten zunächst in Jessikas Computerdateien zu hacken und dann weitere Hinweise für noch mehr Zugriff aus ihren aufgenommenen Vlogs zu extrahieren.
Die Videos beginnen dabei zunächst scheinbar harmlos: Jessika erzählt von ihrer Kindheit, ihrem Vater, der sie regelmäßig mit auf Ausflüge und Urlaube genommen hat, ihr sogar einen kleinen Hund schenkt. Ihre Mutter, die zwar sichtlich Alkoholprobleme hat, dann jedoch schwanger wird und mit dem Trinken aufhört. Das kleine Geschwisterchen, das auf dem Weg ist und auf das sich Jessika schon freut – doch dann nimmt alles eine andere Richtung. Jessika fühlt sich vernachlässigt, ihre Mutter trinkt mehr denn je und ihr Vater … nun, hier beginnt die Sache erst richtig damit, ins Rollen zu kommen.
Stalking oder Nächstenliebe?
Über 150 Vlogs und Dateien gibt es in Jessika zu finden und zu entschlüsseln, indem ihr mithilfe der Hinweise in bereits gesehenen Files immer neue Hash-Tags ausfindig macht. Graue und blaue Dateien sind dabei mit wenigen Tags geöffnet, grüne und orangene brauchen schon ein paar mehr Schlüsselwörter, und die richtig wichtigen Dateien, alle rot markierten, die könnt ihr erst dann öffnen, wenn ihr euch schon richtig tief in Jessikas Vergangenheit und private Gedankenwelt vorgekämpft habt – all das, um ihrem Vater Gewissheit zu verschaffen.
Diesen dürft ihr im Spiel übrigens via SMS am Laufenden halten – genau wie eure Kollegen bei der White Flower, die euch mit Rat und Tat zur Seite stehen und euch auch mentale Unterstützung zukommen lassen, wenn das Gesehene euch mal etwas mehr zusetzt. Und das wird es – denn Jessikas Story wird nach der anfänglichen Idylle im Eilschritt düsterer.
Möchtet ihr bloß herausfinden, was denn nun wirklich geschah, guckt ihr im Spiel einfach eine Datei nach der anderen, führt Gespräche via SMS, lest mysteriöse (und weniger mysteriöse, aber zum Nachdenken anregende) E-Mails und habt den Fall nach rund drei Stunden auch schon gelöst. Hinter Jessika steckt jedoch eine Menge mehr, vor allem eine Menge moralischer Fragen. Das beginnt dabei, dass ihr euch als neuer Mitarbeiter bei der White Flower nicht sicher seid, ob es tatsächlich in Ordnung ist, in den geschützten Dateien von Verstorbenen herumzusuchen. Man versichert euch jedoch, dass alles zum Wohl der Angehörigen sei – und so macht ihr eben mit. Weiter geht es mit Jessika selbst, die von einem scheinbar fröhlichen Kind, womöglich durch diverse negative Geschehnisse, auf die sie kaum Einfluss hatte, zu einer jungen Frau mit mentaler Krankheit heranwuchs. Doch erfahren wir zeitgleich, dass Jessika es auch geliebt hat, Lügengeschichten zu verbreiten und werden demnach vor die Frage gestellt, wie viel von dem, was Jessika – und nur Jessika – hier über ihr Leben erzählt, tatsächlich genau so gelaufen ist. Auch Artikel in E-Mails und unsere Kollegen streuen subtile Hinweise dahingehend, dass man nicht alles, was man im Internet findet, für bare Münze nehmen darf – so real es zu sein scheint.
Storytelling der anderen Art
Jessika will wachrütteln und in die Story ziehen und das nicht nur durch seine kontroversen Themen und den gelungenen Spannungsbogen, der dazu motiviert, einen Tag nach dem anderen auszuprobieren und so immer mehr Dateien zu finden, sondern auch durch den Einsatz von ein paar cleveren Design-Entscheidungen, die das Spiel näher an die Realität bringen sollen.
Der größte Punkt dabei sind natürlich die Vlogs selbst. Jessika setzt statt auf animierte Sequenzen oder viel Text auf reale Videos, aufgenommen mit einer realen (deutschen) Schauspielerin. Die schauspielerische Leistung ist dabei durchwegs solide, auch wenn mir persönlich einige der Videos ein wenig zu übertrieben wirkten – von den überspitzten Beschreibungen Jessikas über ihre unkontrollierten Ausbrüche.
Ein weiteres Manko sind für mich die unglaublich vielen Fehler in den geschriebenen Texten. Mag sein, dass man hier absichtlich nicht allzu genau geschaut hat, um „realistische“ SMS- und E-Mail-Gespräche zu simulieren, aber wenn selbst in angeblichen Newslettern und Zeitungsberichten durch die Bank Tipp- und Kommafehler zu finden sind, wird es für mich mühsam.
Die Steuerung im Spiel ist simpel gehalten und intuitiv – jedoch fehlen dem Interface einige Funktionen, die das Spielerlebnis noch spannender gestaltet hätten: So bekommt man mit jedem Tag neue Videos, deren Dateinamen nichtssagend sind, nach Öffnen jedoch die Vlog-Nummer preisgeben. Sucht man nach einem neuen Tag, verschwinden die vorherigen Ergebnisse und die neuen erscheinen. Möchte man Files leicht zugänglich behalten, muss man sie mit einem Stern markieren, um sie in eine eigene Liste zu legen. Im gesamten Spiel gibt es jedoch leider keine Möglichkeit, sich schnell und einfach alle Dateien, die man bereits gefunden bzw. geöffnet hat, auflisten zu lassen, schon gar nicht in Vlog-Reihenfolge. Möchte man also alles noch einmal durchgehen, muss man sich durch die Liste der bereits genutzten Tags klicken und darauf hoffen, anhand dieser und der Thumbnails noch erahnen zu können, welche Datei zu welchem Vlog gehört.
Der letzte Kritikpunk betrifft die Story selbst. Wie erwähnt, geht es in Jessika darum, die Wahrheit zu finden, sich währenddessen jedoch auch moralische Fragen zu stellen. Das Konzept durchblickt man dabei sehr einfach, was jedoch fehlt, ist ein eindeutiger roter Faden, der uns als Spieler zu einem tatsächlichen Conclusio führt. Im Spiel passieren Dinge, die wir nicht ganz nachvollziehen können – Dateien, die plötzlich verschwinden, genannt per Nummer, die uns allerdings nichts weiter sagt, wenn wir nicht gerade zufällig wissen, was Vlog_079 nun beinhaltete –, gleichzeitig geht zum Ende hin alles so schnell, dass die psychologische Auflösung komplett zu kurz kommt. Weder wir als Spieler noch die Charaktere im Spiel bekommen wirkliche Antworten. Natürlich kann man hier argumentieren, dass es für schreckliche Ereignisse nun mal nicht immer Antworten gibt, dennoch fühlt man sich dadurch am Ende des Abenteuers ein wenig unbefriedigt.
Dilemma
Jessika ist ein Spiel der anderen Art – sowohl, was seine Inhalte wie auch seine Präsentation betrifft. Die Detektivstory mit düsterem Inhalt und moralischem Dilemma zieht im Nu in ihren Bann, kämpft aber dennoch mit ein paar gröberen Umsetzungsproblemen. Allem voran stehen dabei die fehlende Übersicht über die gefundenen/geöffneten Dateien sowie das unbefriedigende Ende, das einen Haufen Fragen stehen lässt, jedoch kaum Antworten liefert. Persönlich hätte ich mir hier klarere Aussagen gewünscht, die auch tatsächliche moralische Werte vermitteln, anstatt bloß Diskussionspunkte in den Raum zu stellen und es dem Spieler zu überlassen, seine eigenen Interpretationen zu finden und Rückschlüsse zu ziehen.
Jessika
Systeme: PC (Steam)
Getestet auf: PC Intel Core i7-8700K, 32GB RAM, GeForce RTX 2080
Genre: Abenteuer
Entwickler / Publisher: Tritrie Games / Assemble Entertainment
Erscheinungsdatum: 25. August 2020
Kira arbeitet bereits seit 2004 für diverse Videospiel- und Entertainment-Magazine, darunter auch die ehemaligen Printmagazine von Gamers.at und consol.at. Leidenschaftliche Zockerin ist sie allerdings schon seit dem Atari 2600 und sie kann sich auch nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern wird.