Herbst 2010. Vor einem halben Jahr erschien ein Action-Rollenspiel namens NieR Gestalt und hat seitdem eine kleine, aber dafür umso enthusiastischere Fangemeinde versammelt. Als das Spiel günstig bei einem lokalen Videospielhändler zu erstehen ist, schlage ich zu – und verstehe erstmal gar nichts. NieR Gestalt war damals beileibe nicht mein erstes J-RPG und auch für Spiele mit gewissen Ecken und Kanten habe ich einen besonderen Platz in meinem Herzen, aber dieses Game machte es mir nicht gerade leicht. Die Story war anfangs verwirrend, in den ersten, recht monotonen Dungeons treibt mich die Kamera beinahe in den Wahnsinn, aber es gibt auch sehr positive Seiten: die faszinierende Welt, die vielschichtigen Charaktere und die eigentümliche melancholische Atmosphäre, die vor allem vom fantastischen Soundtrack getragen wurde. Trotzdem bracht mich das Gameplay irgendwann und NieR wanderte auf meinen „Pile of Shame“. Frühling 2021. Eine neue Chance tut sich auf. Starten wir ins Remake NieR Replicant ver.1.22474487139…
Bruder und Schwester?
Zunächst sollten wir das Offensichtliche aus dem Weg schaffen: NieR Replicant ver.1.22474487139… ist ein Remake der japanischen PS3-Version und das bedeutet, dass der Titelheld nun auch im Westen ein junger Bursche ist, der sich um seine kranke Schwester Yonah sorgt. 2010 hatte man Nier außerhalb Japans (und auf der Xbox 360) noch zu einem erwachsenen Mann und Yonah zu dessen Tochter gemacht. Was einem davon besser gefällt, ist natürlich Geschmackssache. An den jungen Nier hat man sich jedoch in jedem Fall schnell gewöhnt; ein Umschalten auf „Vater Nier“ ist leider nicht möglich. Auf die Geschichte hat das aber kaum Einfluss, da sich nur einige Dialoge geringfügig verändern. Und die Story ist es auch, die NieR Replicant damals wie heute von der Masse abhebt. Aber dazu später mehr. An dieser Stelle nur so viel: Wer den grummeligen, alten Mann vermisst, kann sich zumindest auf einige, im Spiel enthaltene Bonusinhalte freuen.
Was ist neu?
Auf den ersten Blick ist NieR Replicant ver.1.22474487139… ein typisches Remake geworden. Die Grafik ist hübscher, der Soundtrack wurde neu eingespielt und das Spiel läuft nun angenehm flüssig. Zugegeben, man hätte sich vielleicht ein noch größeres grafisches Update gewünscht, aber wenn man zu den Klängen des wunderschönen „Hills of Radiant Wind“ wiederholt in der Szenerie versinkt, wird klar, dass die Designer eine Menge richtig gemacht haben. Eine weitere, im Vorfeld kritisch beäugte Neuerung stellt sich schnell als halb so wild heraus: Zwar wurden die Dialoge neu aufgenommen, aber dank der vielen zurückgekehrten Originalsprecher merkt man so gut wie keinen Unterschied. Ihr braucht also keine Angst zu haben: Laura Bailey flucht als Kainé immer noch so herzhaft wie vor elf Jahren. Nur das leicht veränderte Design der Figur wirkt zunächst etwas befremdlich.
Die wirklich wichtigen Neuerungen erkennt man, wenn man das Pad in der Hand hat, denn vom Remake am meisten profitiert hat das Kampfsystem. Vorbei sind die chaotischen Zeiten der Kameraprobleme und eine nun flüssige Framerate sowie eine Lock-on-Funktion lassen Nier nicht mehr die Hälfte der Zeit in die Luft schlagen. Auch die magischen Angriffe von Grimoire Weiss gehen so viel einfacher ins Ziel und sehen zudem gewohnt spektakulär aus. Es ist immer wieder spannend, mit welchen magischen Attacken das gesprächige Buch den nächsten Boss erledigt. Das Kämpfen macht in NieR Replicant ver.1.22474487139… also richtig Spaß, auch wenn das Blocken unnötig fummelig ist und die Attacken der Gegner oft kaum vorhersehbar sind. Im Zweifelsfall ist man mit Ausweichen besser beraten. Auch außerhalb der Gefechte lässt sich Nier angenehmer als damals steuern und ist dabei so zügig unterwegs, dass man fast darauf vergessen könnte, sich die Quest für das Eber-Reittier zu holen. Diese lohnt sich aber genauso wie der neu Teil der Hauptquest-Reihe, welche gut ins Spiel passt und einige zusätzliche Stunden Spielzeit bietet.
Was ist geblieben?
Im Grunde ist das Spiel immer noch das, was es vor elf Jahren war. Neben den vielen positiven Aspekten, welche NieR Replicant (zurecht) seinen Kultstatus einbrachten, haben somit aber leider auch einige negative Punkte die Zeit überdauert. So schön beispielweise die Weitsicht und die detailreicheren Umgebungen sein mögen, die Texturen sind immer noch oft sehr matschig und die Mimik der NPCs erinnert mehr an die Augsburger Puppenkiste als an den heutigen Standard. Man sollte allerdings auch nie vergessen, dass es sich hier immer noch um ein altes Spiel handelt, welches nicht von Grund auf neugestaltet wurde. Was sich zum Glück nicht verändert hat, sind der Soundtrack und die Story. Die Musik ist einzigartig und trägt das Spiel auch in seinen etwas zäheren Momenten. Was Keichi Okabe hier geschaffen hat, hebt ihn in den Olymp der Videospielkomponisten neben Namen wie Yūzō Koshiro, Jeremy Soule, Kōji Kondō, Yasunori Mitsuda, Jack Wall und natürlich Nobuo Uematsu. Wer Tracks wie „Snow in Summer“, „Song of the Ancients” (dessen Lyrics von Sängerin Emi Evans aus diversen Sprachen zusammengesetzt wurden) oder das nach wie vor phänomenale „Hills of Radiant Winds“ einmal gehört hat, wird sie nie wieder vergessen. Die Soundeffekte kommen passend dazu angenehm wuchtig aus den Boxen. Ebenso stark ist die Geschichte … zumindest, nachdem sie endlich in Gang kommt.
Nach dem spannenden Prolog lässt uns NieR Replicant ver.1.22474487139… nämlich viele Spielstunden lang eher zähe Aufgaben erledigen. Nur die Hoffnung auf die nächste Story-Sequenz vermag einen da manchmal bei der Stange zu halten, denn schließlich will man ja wissen, wie es mit Nier, Yonah, Weiss und Kainé weitergeht. Trotzdem wäre vor allem bei den Nebenaufgaben etwas Feinschliff nötig gewesen, denn sie bestehen nahezu allesamt aus „Bringe Gegenstand A zu Person B und gehe dabei aber über C, D und Z“. Frust, der nicht hätte sein müssen. Über die Geschichte selbst wird an dieser Stelle nichts weiter verraten, nur dass sie von ebensolcher Qualität wie der Soundtrack ist und auch heute noch überraschen kann. Mittlerweile dürfte bekannt sein, dass Spiele aus dieser Franchise mehrfach durchgespielt werden müssen, um die Story komplett zu verstehen. Veteranen dürfen sich somit auf das brandneue „Ending E“ freuen, welches zudem auch noch sehr gelungen ist.
Nach wie vor einzigartig
Diesmal habe ich es durchgezogen und nicht nur, weil ich ein Review über NieR Replicant ver.1.22474487139... schreiben musste. Ich habe alle Enden gesehen und bin komplett in der Geschichte versunken. Bedenkenlos empfehlen kann ich das Spiel aber dennoch nicht. Es ist teilweise immer noch so sperrig wie 2010 und macht es dem Spieler am Anfang nicht immer leicht, sich bis zur nächsten Cutscene durchzuschlagen. In der Hinsicht erinnert es mich an Soul Reaver 2, welches zwar einen der für mich besten Plots überhaupt hat, aber im Gameplay deutlich schwächelt. So schlimm ist es bei NieR Replicant ver.1.22474487139... allerdings nicht (mehr), da die Kämpfe und die interessanten Umgebungen neben der Story genügend Anreize zum Weiterzocken bieten. Alte Fans müssen ohnehin zugreifen. Produzent Yosuke Saito sagt, dass er nicht erwartet, viele Kopien zu verkaufen. Es liegt an euch, ihn Lügen zu strafen. Denn auch wenn man manchmal darüber flucht: NieR Replicant ist ein Spiel, das im Kopf bleibt!
NieR Replicant ver.1.22474487139...
Systeme: PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X|S, PC
Getestet auf: PS4 Pro
Genre: Action-RPG
Entwickler / Publisher: Toylogic / Square Enix
Erscheinungsdatum: 23. April 2021
Zocker seit Game Boy Tagen, als ihn Mystic Quest und Metroid II in fremde Welten entführten. Musikliebhaber und Film-Nerd mit Hang zum kreativen Schreiben. Tobt sich auch mit eigenen Texten über Filme, Musik und Games auf der eigenen Seite aus, die über das WordPress-Symbol hier drunter zu erreichen ist.