Idyllische Kleinstädte mit großen Geheimnissen, Mysterien mit einem Hauch Übersinnlichkeit – oder zumindest psychologischen Twists – und tiefgreifende Themen, so könnte man die Spiele von DONTNOD sehr kurz zusammenfassen. Auch Twin Mirror folgt einmal mehr dem bewährten Prinzip des Entwicklers, präsentiert uns diesmal aber eine etwas düsterere, erwachsenere Story aus der Feder eines neuen Lead-Writers. Kann der Titel mit seinen Vorgängern mithalten?
Zurück zu den Wurzeln
In Twin Mirror schlüpft ihr in die Rolle von Sam Higgs, der nach zweijähriger Abwesenheit aus seiner Heimatstadt aus unschönem Grund wieder in diese zurückkehrt: Sein bester Freund Nick ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Sam macht sich auf, das Begräbnis samt anschließender Erinnerungsfeier zu besuchen. Schon in den ersten Spielminuten wird klar, dass Sam den Ort seiner Kindheit nicht auf bestem Fuß verlassen hat: Eine misslungene Beziehung, die Entfremdung mit allen Personen, die er kannte – inklusive Nick und dessen Tochter, deren Pate Sam ist – und die Nachwirkungen eines Artikels, den Sam als Journalist für die örtliche Zeitung veröffentlichte, und der dafür sorgte, dass halb Basswood durch die Schließung seiner letzten Mine ihren Job verlor, wiegen immer noch schwer auf ihm. Zudem kommt, dass Nicks Unfall allerlei Ungereimtheiten aufwirft …
Hier hören Sams Probleme allerdings noch nicht auf. Sein mentaler Zustand ist beunruhigend fragil: Ein nur für ihn sichtbarer Zwilling kommentiert unabdinglich seine Taten und gibt ihm mehr oder minder hilfreiche Ratschläge, während Sam sich in stressigen Situationen gleich direkt in sein Gedankenparadies bzw. seinen Gedankenpalast zurückzieht, um die Dinge in surrealer Umgebung Revue passieren zu lassen. Die Fähigkeit ist Segen und Fluch zugleich: Zwar kann Sam dort mit beinahe unheimlicher Präzision Entdecktes analysieren und somit vergangene Vorgänge rekonstruieren, gleichzeitig scheinen ihn diese Ausflüge in seine eigene Gedankenwelt jedoch zunehmend von der Realität zu entfremden. Und dann wacht Sam nach durchzechter Nacht im Kreise seiner entfremdeten Freunde und Bekannten auch noch mit Blackout und blutigem Shirt auf. Das perfekte Setting für nicht bloß eines, sondern gleich mehrere Mysterien, die gelöst werden wollen.
Der schmale Grat
Auf den ersten Blick scheint Twin Mirror ein typisches DONTNOD-Spiel zu sein, das uns in Sachen Gameplay entsprechend liebgewonnene Kost bietet: Wir steuern Sam durch kleine Bereiche von Basswood, erkunden dabei unsere Umgebung, sammeln Infos und Hinweise, indem wir mit diversen Gegenständen interagieren, und führen jede Menge Gespräche mit den anderen Bewohnern des Ortes, in denen wir auswählen dürfen, wie Sam reagiert. Wie bereits in Life Is Strange bestimmen wir so selbst, wie sich die Beziehungen zwischen ihm und anderen Charakteren entwickeln; ebenso wie in DONTNODs Flaggschiff-Serie LIS beeinflussen die Entscheidungen den tatsächlichen Verlauf der Story aber nur minimal. In Twin Mirror gibt es letztendlich zwei Hauptenden, zu denen wir an dieser Stelle jedoch nicht mehr verraten möchten.
Ein wesentlicher Unterschied zu den DONTNOD-Vorgängern ist indessen Sams Fähigkeit, seine außergewöhnliche Gedankenwelt zur Lösung der Geheimnisse Basswoods heranzuziehen. So gibt es in Twin Mirror neben den Erkundungssegmenten auch eine Handvoll Passagen, in denen wir zunächst auf Hinweissuche gehen und dann versuchen, zu rekonstruieren, was am jeweiligen Ort tatsächlich geschehen ist oder was unsere aktuell beste Vorgehensweise ist. Sam muss dabei unter Einsatz seines Gedankenparadieses festlegen, was an unterschiedlichen Momenten des jeweiligen Ereignisses passiert ist oder passieren soll, und durchforstet so alle möglichen Szenarien. Obwohl euch dabei jedes davon als eine Art kristalline Vision vorgespielt wird, bringt euch dennoch nur jeweils eine einzige Version des Geschehens in der Handlung voran – was ein wenig schade ist. Immerhin wäre es in einem Spiel, in dem eure Entscheidungen Einfluss auf die Story nehmen, auch spannend gewesen, zu sehen, wohin Sams Reise geht, wenn er „falsche“ Rückschlüsse zieht.
Auffallend ist zudem, dass uns in Twin Mirror im Vergleich zu den Vorgänger-Games der Life is Strange-Reihe oder auch Tell Me Why generell gehörig unter die Arme gegriffen wird: Sams imaginärer Zwilling schaltet sich regelmäßig ein und lenkt uns in Richtung idealer Antwortmöglichkeit und die gelegentlichen Rätsel, die uns in Sams Gedächtnispalast erwarten, sind allesamt wenig komplex gestaltet und erfordern im schlimmsten Fall mehrere Versuche, weil einem nicht gleich ganz klar ist, was von einem gefordert wird.
Fehler in der Matrix
Die Geschichte von Twin Mirror versucht mit ihren Themen einmal mehr in emotional tiefgehende Kerben zu schlagen – von Vereinsamung und Entfremdung über soziale Ausgrenzung von Außenseitern bis hin zum moralischen Dilemma, zwischen richtigen oder eigennützigen Handlungen zu entscheiden. Das alles ist im Spiel auch in Ansätzen vorhanden, allerdings hat man das Gefühl, dass sich die Entwickler diesmal ein wenig zu viel vorgenommen haben, um in den bloß knapp sechs bis sieben Stunden Spielzeit (auf Episoden wird diesmal verzichtet) auch wirklich alles zur Genüge auszuarbeiten. So scheint an jedem dieser Themen bloß an der Oberfläche gekratzt zu werden, und obwohl die Cast an Charakteren durchaus Potenzial hat, kommen auch diese durch die Bank zu kurz. Die meisten davon haben gerade mal eine Handvoll Minuten Screentime und nicht einmal der Hintergrund der Hauptcharaktere wird im Spiel so weit erforscht, dass uns diese wirklich ans Herz wachsen.
Ist Twin Mirror demnach der erste Flopp von DONTNOD? Absolut nicht – denn trotz all seiner Schwächen hält das Abenteuer bei der Stange, nicht zuletzt Sams Gedanken-Zwilling geschuldet, dessen Dialoge und Interaktionen mit Sam zu den besten Szenen im Spiel gehören. Und auch das Hauptmysterium in Twin Mirror – Nicks vermeintlicher Autounfall und die damit verbundenen Ereignisse – ist spannend genug erzählt, um zum Weiterspielen zu motivieren.
Technisch bietet Twin Mirror ebenso Licht wie Schatten: Während wir immer wieder kleineren Grafik-Glitches wie nachladenden Texturen, Clipping-Fehlern oder zu spät bzw. fälschlich ladenden Objekten begegnen, die Animationen (vor allem die Gesichtsanimationen) recht steif wirken und auch das richtige Positionieren Sams, um Interaktionspunkte anwählen zu können, oft etwas mühsam ist, wird der Spielspaß im Endeffekt doch von nichts davon wirklich negativ beeinträchtigt. Der Sound von Twin Mirror kann indessen auf voller Länge punkten – mit einmal mehr erstklassigen Sprechern und einem Soundtrack, der von angenehm bis positiv auffällig reicht. Die einzige kleine Ausnahme: Im letzten Kapitel des Spiels wollte die Sprachausgabe bei einigen Zeilen nicht starten und wir konnten nur den Aussagen der Charaktere nur via Text folgen.
Spielspaß mit Spielraum nach oben
Wann immer ein neuer DONTNOD-Titel angekündigt wird, kommt bei mir sofort Vorfreude auf – immerhin hat mich der Entwickler bislang noch nie enttäuscht: Von allen drei LIS-Teilen bis hin zum fantastischen Tell Me Why konnte mich bislang noch jedes Spiel des Studios mitreißen. Auch Twin Mirror macht Spaß und wartet mit spannenden Story-Ideen auf, kann in seiner Umsetzung im Endeffekt aber nicht ganz mit seinen Vorgängern mithalten. Womöglich der im Vergleich zu kurzen Spieldauer geschuldet (immerhin gibt es diesmal nur eine einzige „Episode“), kommen diesmal leider sowohl die Charaktere wie auch die emotionalen Konflikte des Titels schlicht allesamt zu kurz, um wirklich zum Mitfühlen und Nachdenken anzuregen. Als reines Detektiv-Adventure mit dem gewissen Twist gefällt Twin Mirror aber dennoch, und auch wenn der Titel sowohl in Sachen Storytelling wie auch Technik eindeutig noch Polishing vertragen hätte, ist der bittere Beigeschmack, der sich hier durch alles zieht, weniger tatsächlich schwerwiegenden Makeln des Spiels selbst als dessen Vergleich mit vorherigen DONTNOD-Projekten geschuldet. Mittlerweile wissen wir einfach, dass der Entwickler das alles auch weit besser hinbekommt – und hoffentlich kehrt er mit seinem nächsten Game auch wieder zu alten Höhen zurück.
Twin Mirror
Systeme: PS4, Xbox One, PC
Getestet auf: PS4
Genre: Adventure
Entwickler / Publisher: DONTNOD / Bandai Namco
Erscheinungsdatum: 1. Dezember 2020
Kira arbeitet bereits seit 2004 für diverse Videospiel- und Entertainment-Magazine, darunter auch die ehemaligen Printmagazine von Gamers.at und consol.at. Leidenschaftliche Zockerin ist sie allerdings schon seit dem Atari 2600 und sie kann sich auch nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern wird.