Es ist Zeit, dass Iron Man, Hulk, Ms. Marvel, Black Widow, Thor und Captain America zeigen, was in ihnen steckt. Square Enix schickt Marvel’s Avengers ins Rennen um die Krone der Service-Games und setzt dabei voll auf die zugkräftige Lizenz. Nachdem die Beta zwiespältig aufgenommen wurde, durfte man auf die Vollversion gespannt sein. Geht das groß angelegte Projekt schließlich nur als Randnotiz in die Spielegeschichte ein oder kann es nach etwas Nachbessern nun doch voll überzeugen?
Marvel’s Avengers soll ein großes Ding werden, das war schon bei der ersten Ankündigung klar. Mit den Avengers in immer neue Missionen ziehen und die zukünftigen DLC-Helden kostenlos zu erhalten, klang wie ein guter Deal. Ein Comic erzählte die Vorgeschichte der Hauptfiguren (abzüglich Ms. Marvel) und vor gut einem Monat sollte eine Beta einen ersten Eindruck gewähren. Wie wir diese fanden, könnt ihr hier nachlesen. Unser Eindruck deckte sich mit dem allgemeinen Tenor und es wurde vor allem Kritik am Gameplay laut.
Auf in die (Multiplayer-)Schlacht
Auf den ersten Blick hat sich am Gameplay nicht viel geändert. Man kämpft sich allein oder mit mehreren Helden durch in sich geschlossene, nicht besonders abwechslungsreiche Areale und erfüllt dabei die üblichen Ziele, wie das Besiegen bestimmter Gegner oder das Retten von verbündeten NPCs. So weit, so unoriginell. Was aber nicht bedeutet, dass die Kämpfe in Marvel’s Avengers keinen Spaß machen – das Gegenteil ist der Fall. Denn endlich fühlen sich die Helden unterschiedlich an und punkten durch ihre eigenständigen Fähigkeiten. Für den Fernkampf reißt der Hulk beispielsweise riesige Trümmerteile aus dem Boden, während Black Widow auf ihre Pistolen vertraut, die ihren geringeren Schaden durch die erhöhte Schussfrequenz ausgleichen. Es macht richtig Laune, Gegner mit Ms. Marvel und Cap im Nahkampf zu malträtieren oder mit Iron Man und Thor aus der Luft wahre Effektgewitter loszulassen. Und das ist auch nötig, denn die Kämpfe sind das Herzstück des Spiels.
Die wenigen Stealth-Missionen in der Kampagne sind kaum als solche zu bezeichnen, was vor allem in Hinblick auf Black Widow schade ist. Mit ihrem Kletterhaken und ihrer Tarnfähigkeit wäre sie dafür eigentlich prädestiniert gewesen. Alles in allem ist Marvel’s Avengers im Multiplayer perfekt dafür geeignet, um nach Feierabend ein paar Stunden Dampf abzulassen. Wer nach mehr Substanz sucht, dürfte enttäuscht werden: Weder das Loot noch die Widersacher sind interessant genug, um für Langzeitmotivation zu sorgen. Es gibt zwar mehr als 40 Gegnertypen, im Kampfgetümmel wirken die Soldaten und Roboter trotz vieler grafischer Spielereien aber doch recht gleich. Menschliche Feinde sterben übrigens nicht, sondern bleiben stöhnend auf dem Boden liegen. Lustigerweise auch dann, wenn der Hulk sie gerade mehrfach auf den Boden geschmettert hat.
Eine unrunde Erfahrung
Man bekommt bei Marvel’s Avengers genau das, was versprochen wurde. Nie haben die Entwickler verheimlicht, dass es sich um seinen Service-Titel handeln wird, der die Spieler langfristig binden soll – und doch fühlt es sich seltsam an, wenn man sogar im Story-Modus ständig darauf hingewiesen wird. Es gibt viel zu viele Händler, die alle unterschiedliches Loot verlangen, und beim Anblick der Skilltrees jedes einzelnen Helden bekommt man einen Schock. Wenn man alle Figuren vollends aufgelevelt hat, stehen etliche Stunden zu Buche, dafür hat man dann aber auch wirklich coole Fähigkeiten im Gepäck. Was wieder zum Kampfsystem führt, welches sich im Vergleich zur Beta zwar deutlich (!) verbessert zeigt, aber immer noch viel zu wenig Abwechslung bietet. Hinzu kommen vermeidbare Präsentationsfehler wie langsam ladende Texturen, Voice-Files im Endlosloop oder unsichtbare Charaktere. Die Micro Transactions beschränken sich auf kosmetische Objekte wie neue Kostüme, aber auch auf diese wird man ständig hingewiesen. Das kann schon nerven. Ebenso wie die Ladezeiten, für die man ein dickes Fell mitbringen muss. Bei jedem Bildschirmtod ungefähr eine Minute warten zu müssen, ist einfach nicht zeitgemäß.
Mit diesen Aspekten hatte man im Vorfeld gerechnet, doch Marvel’s Avengers ist nicht die Enttäuschung geworden, mit der viele gerechnet haben (Rezensenten eingeschlossen). In kleinen Dosierungen entfalten die Superhelden-Keilereien einen im besten Sinne primitiven Charme. Von einigen Grafikfehlern abgesehen, fahren die Entwickler hier nämlich richtig schwere Geschütze auf. Ständig rumst und kracht es um einen herum und nach einer kurzen Eingewöhnungsphase kriegt man die Truppen von AIM mit jedem Helden klein. Dem Soundtrack mangelt es zwar an einprägsamen Melodien, aber das machen die Effekte wieder wett. Fans des MCU können sich freuen, denn Iron Mans Repulsor aktiviert sich mit demselben Klang wie auf der großen Leinwand. Die Schauspieler konnten für die Vertonung zwar nicht gewonnen werden, aber professionelle Sprecher wie Troy Baker (Bruce Banner), Laura Bailey (Black Widow) oder Nolan North (Tony Stark) erledigen ihren Job gewohnt stark. Leider kann man dies nicht für ihre deutschen Kollegen sagen, die nur Dienst nach Vorschrift machen. Hinzu kommt eine wirklich misslungene deutsche Übersetzung, die einige Stilblüten bietet. „The future is bright“ mit „Die Zukunft leuchtet“ zu übersetzen, ist schon sehr abenteuerlich.
Vorhang auf für … Kamala Khan
Marvel’s Avengers überzeugt am meisten dort, wo es wohl die wenigsten erwartet haben: Im Story-Modus. Im Laufe der 10 bis 15 Stunden langen Kampagne übernehmen wir nach und nach die Kontrolle über alle Hauptfiguren; im Fokus steht aber die als Ms. Marvel bekannte Heldin. Im Prolog steuern wir sie noch als junges Mädchen, die ihre Helden auf dem „Avengers Day“ kennenlernen will. Wenn der riesige Avengers-Fan von Steve Rogers ein Lob bekommt, dürfte jedem vorm Bildschirm das Herz aufgehen. Doch bei der abschließenden Präsentation geht etwas gewaltig schief und im Zuge der fortan als A-Day bekannten Katastrophe werden die Avengers aufgelöst und halb San Francisco mit etwas verstrahlt, das die Menschen Superkräfte entwickeln lässt. Fünf Jahre später wird Kamala, die zu einer Polymorph wurde, von der Organiation AIM aufgespürt, welche die sogenannten Inhumans jagt (Comic-Fans horchen auf). Nach einem sehr stimmungsvollen Beginn spürt sie den Hulk im alten Luftschiff der Avengers auf, der wie sein Alter-Ego Bruce Banner um den beim A-Day verstorbenen Captain America trauert. Mit einiger Überredungskunst und ihrem jugendlichen Enthusiasmus kann Kamala den melancholischen Banner davon überzeugen, sich auf die Suche nach Tony Stark zu machen.
Mehr soll nicht verraten werden, denn auch wenn die Geschichte keine allzu überraschenden Haken schlägt, so ist sie doch toll erzählt. Und das ist vor allem Kamala zu verdanken, die ihr Comic-Debüt erst 2013 feierte. Der Story-Modus von Marvel’s Avengers ist im Prinzip eine Coming-of-Age-Geschichte über eine junge Frau, die ihren Platz im Leben sucht und dabei ihre Kindheitsidole trifft. Nur dass sie mit ihren biegsamen Gliedmaßen ordentlich austeilen kann und Freunde wie einen grünen Giganten oder einen spitzzüngigen Milliardär im Kampfanzug hat, mit denen sie die beste Chemie entwickelt. Während in Banner eine Art Vaterinstinkt aufkommt und er langsam auftaut, ist Stark schnell vom dem vorwitzigen Teenager begeistert. Herrlich ist die Szene, als Kamala mit Bruce in einem Van unterwegs ist und ihn dabei ein wenig sekkiert. Oder wenn sie sich vor Tony für ihr Kostüm schämt, welches sie aus einem Burkini gefertigt hat (sie ist Muslima). Sie sehe darin bestimmt albern aus, sagt sie. Tony versichert ihr daraufhin in seiner typischen Art, dass alberne Kostüme zum Job gehören, und der Superheld das Kostüm macht und nicht umgekehrt. Solche Charaktermomente dürfen in einem potentiellen Nachfolger gerne ausgebaut werden.
Avengers Assemble!
Marvel’s Avengers ist viel besser geworden, als ich gedacht habe. Vermutlich spielen auch meine niedrigen Erwartungen eine Rolle, aber der Singleplayer war wirklich spaßig und die mir vorher praktisch unbekannte Kamala ist mir sehr ans Herz gewachsen. Die mangelnde Abwechslung muss ich in die Bewertung einfließen lassen, aber eine positive Überraschung ist das Spiel durchaus geworden. Es gefällt mir sehr, dass man einen unbekannteren Schurken wie Modok verwendet und nicht zum x-ten Mal Doctor Doom hervorgeholt hat. Bonuspunkte gibt es außerdem für Iron Mans exzellenten Musikgeschmack: Mit „Flight of Icarus“ (Iron Maiden), „The Mob Rules“ (Black Sabbath) oder „Blackout“ (Scorpions) in die Schlacht zu fliegen, hat einfach Stil. Eine bedenkenlose Empfehlung kann ich nicht aussprechen, aber wer ein Faible für Marvel hat und mit der Natur des Spiels als Service-Titel leben kann, macht mit Marvel’s Avengers nichts falsch.
Marvel's Avengers
Systeme: PC, PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X
Getestet auf: PS4
Genre: Action-Adventure
Entwickler / Publisher: Crystal Dynamics / Square Enix
Erscheinungsdatum: 4. September 2020
Zocker seit Game Boy Tagen, als ihn Mystic Quest und Metroid II in fremde Welten entführten. Musikliebhaber und Film-Nerd mit Hang zum kreativen Schreiben. Tobt sich auch mit eigenen Texten über Filme, Musik und Games auf der eigenen Seite aus, die über das WordPress-Symbol hier drunter zu erreichen ist.
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